Urlaubsanspruch darf nicht von Mindestarbeitszeit abhängen

Arbeitnehmer haben auch dann Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wenn sie während des gesamten Bezugszeitraums krankgeschrieben waren. Wie der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 24.01.2012 entschieden hat, darf der Jahresurlaubsmindestanspruch nicht von einer effektiven Mindestarbeitszeit abhängig gemacht werden. Dies verstieße gegen Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG, so der EuGH.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erlitt Ende 2005 auf dem Weg von ihrer Wohnung zu ihrem Arbeitsort einen Unfall und war infolgedessen bis Anfang Januar 2007 krankgeschrieben. Für diesen Zeitraum begehrte sie 22,5 Urlaubstage, hilfsweise eine Urlaubsabgeltung von etwa 1.970 Euro. Ihr Arbeitgeber, das Centre informatique du Centre Ouest Atlantique (CICOA), lehnte dies ab. Vor den französischen Gerichten machte die Klägerin geltend, dass der Wegeunfall ein Arbeitsunfall gewesen sei, der unter die Regelung für Arbeitsunfälle falle. Deshalb müsse der Zeitraum der durch den Wegeunfall bedingten Arbeitsunterbrechung für die Berechnung ihres bezahlten Urlaubs tatsächlicher Arbeitszeit gleichgesetzt werden. Die Klage blieb in den ersten beiden Instanzen ohne Erfolg.

Der EuGH hat entschieden, dass die französische Regelung, wonach die Entstehung des Urlaubsanspruch von einer zehntägigen Mindestarbeitszeit während des Bezugszeitraums abhängig ist, gegen Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie verstößt. Der EuGH betont, dass der Jahresurlaubsanspruch ein besonders bedeutsamer Grundsatz des europäischen Sozialrechts ist und weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die Entstehung dieses Anspruchs selbst nicht von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen und bereits die Entstehung des ausdrücklich allen Arbeitnehmern zuerkannten Anspruchs ausschließen dürfen. Außerdem bestätigt der EuGH seine Feststellung aus dem Schultz-Hoff-Urteil, wonach die Richtlinie nicht zwischen Arbeitnehmern, die während des Bezugszeitraums krankheitsbedingt abwesend gewesen sind, und solchen unterscheide, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Daraus folge, dass ein Mitgliedstaat den nach der Richtlinie allen Arbeitnehmern zustehenden Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei ordnungsgemäß krankgeschriebenen Arbeitnehmern nicht von der Voraussetzung abhängig machen dürfe, dass sie während des von diesem Staat festgelegten Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Laut EuGH gestattet die Richtlinie den Mitgliedstaaten aber, die Dauer des Urlaubs je nach dem Grund der krankheitsbedingten Fehlzeiten unterschiedlich zu gestalten, sofern die Urlaubsdauer länger als die von der Richtlinie gewährleistete Mindestdauer von vier Wochen oder genauso lang wie diese ist.

Das französische Gericht müsse nun prüfen, ob eine richtlinienkonforme Auslegung des französischen Rechts erlaubt, die Fehlzeiten des Arbeitnehmers aufgrund eines Wegeunfalls den Fehlzeiten infolge eines Arbeitsunfalls gleichzustellen. Nach der Richtlinie dürfe das Recht eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nicht beeinträchtigt werden, gleich, ob er während des Bezugszeitraums infolge eines Unfalls am Arbeitsplatz oder anderswo oder aber infolge einer Krankheit, welcher Art oder welchen Ursprungs auch immer, krankgeschrieben sei. Für den Fall, dass eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sei, hänge eine unmittelbare Berufung auf die Richtlinie von der Rechtsnatur des CICOA ab, da der Einzelne sich gegenüber Privaten nicht unmittelbar auf eine Richtlinie berufen könne (keine horizontale Direktwirkung). Sei eine unmittelbare Geltung der Richtlinie zwischen der Klägerin und der CICOA zu bejahen, müsse das französische Gericht jede entgegenstehende innerstaatliche Rechtsvorschrift unangewendet lassen. Könne die Klägerin die Richtlinie nicht unmittelbar geltend machen, müsse sie eine Haftungsklage gegen den Staat erheben, um den Schaden ersetzt zu bekommen, der ihr wegen Verletzung ihres Rechts aus der Richtlinie auf bezahlten Jahresurlaub entstanden ist.

EuGH, Urteil vom 24.01.2012 – C-282/10